Schwere Erreichbarkeit.
Herausforderungen und Ausblicke
von Dr. phil. Andreas Kirchner
von Dr. phil. Andreas Kirchner
Die Lage vieler junger Menschen in Deutschland bleibt weiterhin prekär. Ca. 25 % der 18–24-Jährigen sind von materieller Armut gefährdet – damit korrelieren in sozialstaatlicher Leistungslogik oft auch besondere Belastungen des Lebens (§ 1 SGB I); soziale Benachteiligungen und/oder individuelle Beeinträchtigungen (§ 13 SGB VIII); Probleme in der Erziehung (§ 27 SGB VIII), Probleme der Beschäftigungsfähigkeit (§ 1 SGB III) und/oder im Gesamten Schwierigkeiten, in eine schulische, ausbildungsbezogene oder berufliche Qualifikation bzw. ein selbständiges Arbeitsleben einzumünden (§ 16h SGB II). Die Lebenslagen dieser jungen Menschen sind insofern unsicher, verwundbar, labil – und betreffen gerade für junge Menschen nicht nur ihre aktuelle Lage, sondern auch die Art und Weise, wie junge Menschen zu ihrem Leben Stellung nehmen und ihren Lebensentwurf ins Prekäre entwerfen (Kirchner, 2021, 17). Zudem sind spätestens seit Corona neben den materiellen Herausforderungen zunehmend die psychischen Herausforderungen in den Blick geraten.
Etabliert haben sich in fachlicher Hinsicht Bezeichnungen wie NEETs (not in employment, education or training), Entkoppelte, Straßenjugendliche, Ausgegrenzte, Systemsprenger etc., insbesondere für junge Menschen, welche sich wie in einer Negativ-Dynamik mit den organisierten Sozialsystemen befinden (ebd., 23 ff). Trotz aller Heterogenität zeigen sich im Kontext schwerer Erreichbarkeit übergreifende Charakteristika (ebd., 34 ff):
„Schwere Erreichbarkeit“ funktioniert als Markierungsformel dabei in zwei Richtungen (Kirchner, 2021, 126 f). Zum einen kommen junge Menschen in den Blick, die in den Belastungen ihres Lebens oft dysfunktionale Verhaltensroutinen entwickelt haben und für Schulen, Betriebe, Ämter, Familien etc. tatsächlich schwer erreichbar sind. Zum anderen erscheinen aber auch unsere „sozialen Vermittlungsagenturen“ bei allem Engagement in ihren häufig (zu) einfachen Input-Output-Logiken und nur schwer nachzuvollziehenden Differenzierungen in unterschiedliche Rechtskreise für die jungen Menschen schwer erreichbar.
Gerade am Übergang von der Schule in die Arbeitswelt stellen Jugendberufsagenturen eine vielversprechende Perspektive zur Unterstützung junger Menschen dar. Diese haben sich seit 2010 aus dem Bündnis Jugend und Beruf zunächst modellhaft, dann nahezu flächendeckend als rechtskreisübergreifende Kooperationsbündnisse (insbesondere SGB II, III, VIII) von den örtlichen Agenturen für Arbeit, den Jobcentern und Trägern der öffentlichen Jugendhilfe herausgebildet¹. Jugendberufsagenturen reagieren mit der Idee einer Bündelung von Leistungen in einem Haus bzw. „wie aus einer Hand“ genau auf diejenige Problematik, dass die rigide Differenzierung sozialstaatlicher Leistungen in unterschiedliche Rechtskreise oft unübersichtlich ist – leider da, wo das Leben in einer vielleicht schwierigeren Phase eh schon schwer bewältigbar geworden ist. Allerdings haben auch die Jugendberufsagenturen nach wie vor ihre eigenen Bewältigungsherausforderungen: Trotz einheitlicher konzeptioneller Idee gibt es keine gesetzliche Grundlage und keine eindeutig objektiv verpflichtenden Kooperationsnormen in den entsprechenden Sozialgesetzen². Schnelle Hilfen reiben sich tlw. an Klärungen von Vorrangprinzipien, an Klärungen zum Datenschutz, allein schon an unterschiedlichen Datensätzen und Programmen der jeweiligen Träger, aber auch an der Unterschiedlichkeit grundlegender Logiken: Während die Rechtskreise SGB III und SGB VIII eher auf selbstbestimmte und eigenverantwortliche Freiwilligkeit getrimmt sind, ist das SGB II bei allem Engagement im Grundsatz des Forderns eher auf Pflicht und das „Müssen“ fokussiert.
Einen besonders wichtigen – und vielleicht auch unterschätzten – Baustein stellt dabei die Kooperation der Jugendberufsagenturen mit den Schulen dar. Gemeint ist allerdings nicht nur eine Berufsberatung an Schulen, sondern ein gemeinsamer Blick auf das zentrale Thema Schulabsentismus! Alle bekannten Fallverläufe im Kontext schwerer Erreichbarkeit weisen – wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen, so doch in aller Regel – fehlende Zeiten im Schulbesuch auf.
Schulabsentismus erscheint so als früher korrelativer Indikator für schwere Erreichbarkeit – und hier dürfte es sich auch für die Jugendberufsagenturen lohnen, mit Schulen Konzepte und aktive Handlungsstrategien für den Umgang mit Schulabsentismus zu entwickeln³. Die wichtigste Erkenntnis dürfte sein, als Organisation, als Kooperationsbündnis eine sehr wachsame Sorge für das Thema zu entwickeln und Aufmerksamkeits- und Handlungsmuster zu entwickeln und aktiv zu institutionalisieren⁴.
Und von einer ganz anderen Seite her sind gerade die Überlegungen zu einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr im Kontext schwerer Erreichbarkeit spannend. Die Möglichkeiten für einen „Zuwachs an Gemeinsinn“ (Jäkel/Maizière/Steinbrück/Voßkuhle, 2025, 141) lassen sich sicherlich positiv beurteilen – allein schon wegen der Chance, die entgegen aller gesellschaftlichen Individualisierungstendenzen darin liegt. Auch die Möglichkeiten beruflicher, sozialer und lebenspraktischer Orientierung. Auf jeden Fall wäre aber mit einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr eine zusätzliche Sozialisierungsinstanz geschaffen, die eben auch diejenigen erreichen müsste, welche ansonsten schwer erreichbar sind. An dieser Stelle bieten sich dann auch Anknüpfungsmöglichkeiten für die relevanten Sozialleistungsträger. Vielleicht verhält es sich mit einem Gesellschaftsjahr wie mit Jugendberufsagenturen: Die Chance, Freiheit und Verbundenheit bzw. Freiwilligkeit und Pflicht zusammenzubringen und letztlich das Leben in sozialer Verbundenheit gut leben zu können.
Unser Autor Dr. phil. Andreas Kirchner
ist Professor für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München, Campus Benediktbeuern; langjährige Praxiserfahrungen und Forschungen in der Jugendarbeit und Erziehungshilfe.
1 Stand 01/2025 gab es in Deutschland 366 Jugendberufsagenturen (vgl. www.servicestelle-jba.de).
2 Die eher von Kollisionsregeln geprägt sind: also welcher andere Rechtskreis vorrangig zuständig ist.
3 Insofern ließen sich Jugendberufsagenturen als multiprofessionelle Akteure einbringen.
4 Wie z.B. sofortiges Melden durch die Lehrkraft, nachfragen bei unentschuldigtem Fehlen, Kontakt zu den Erziehungsberechtigten, zu Hause aufsuchen etc. Vgl. Sälzer, 2023
Literatur
BA – Bundesagentur für Arbeit (2017): Bericht zum Stand der Umsetzung und Weiterentwicklungsperspektiven. Entwicklungsstand der Jugendberufsagenturen im Bundesgebiet und in den Ländern. Nürnberg.
DV – Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (2016): Erfolgsmerkmale guter Jugendberufsagenturen. Grundlagen für ein Leitbild. DV 26/15.
Jäkel, Julia / Maizière, Thomas de / Steinbrück, Peer / Voßkuhle, Andreas (2025): Initiative für einen handlungsfähigen Staat. Abschlussbericht. Freiburg, Basel, Wien: Herder. URL: https://www.ghst.de/fileadmin/images/01_Bilddatenbank_Website/Demokratie_staerken/
Initiative_für_einen_handlungsfähigen_Staat/Abschlussbericht/Abschlussbericht_neu.pdf. (Abruf 2025-07-20).
Kirchner, Andreas (2021): Prekäre Positionen. Perspektiven für die Arbeit mit schwer erreichbaren jungen Menschen. München: Don Bosco Medien.
Kirchner, Andreas (2024): Ist Selbstbestimmung nachhaltig?! Eine reflexive Anfrage. In: Karl, Katharina / Ostheimer, Jochen / Nassauer, Gudrun (Hrsg.): Jugendpastoral nachhaltig und digital. Sankt Ottilien: EOS Verlag. S. 121–144.
Sälzer, Christine (2023): Multiprofessionelle Teams im Umgang mit Schulabsentismus. In: dreizehn. Zeitschrift für Jugendsozialarbeit, Nr. 30 / 2023, S. 4–7.
Schnelle, Caroline / Wieland, Clemens (2024): Abgehängt oder nur am Abhängen? Faktencheck NEETs 2024. „Not in Education, Employment or Training“. URL: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/faktencheck-neets-2024-abgehaengt-oder-nur-am-abhaengen-1. (Abruf 2025-07-19).