Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser,
Zehn Jahre nach dem Sommer 2015 lohnt der Blick zurück. Was damals als außergewöhnliche Situation begann, wurde zum Ausgangspunkt eines tiefgreifenden Wandels in der deutschen Migrations- und Integrationspolitik. Die Entscheidung, Schutzsuchenden die Einreise zu ermöglichen, stellte das Land vor große organisatorische und politische Herausforderungen. Gleichzeitig setzte sie eine bemerkenswerte Welle an Solidarität in Gang. Viele Menschen engagierten sich ehrenamtlich, unterstützten bei Ankunft, Sprachkursen und Wohnungs- oder Arbeitssuche.
Heute lässt sich feststellen, dass viele der damals angekommenen Menschen ihren Weg in die Gesellschaft und insbesondere in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Ein großer Teil ist erwerbstätig und trägt zur Wirtschaft und Gesellschaft bei. Dass dies gelungen ist, ist auch dem Einsatz zahlreicher Akteure zu verdanken. Ehrenamtliche Strukturen, Bildungs- und Sozialträger und die Jobcenter reagierten in kurzer Zeit und schufen gemeinsam mit Kommunen und Betrieben neue Zugänge zu Arbeit, Sprache und gesellschaftlicher Teilhabe.
Gleichzeitig zeigt der Rückblick, wie herausfordernd Integrationsprozesse bleiben. Während die Beschäftigungsquote der 2015 Zugewanderten heute nahezu an das allgemeine Niveau heranreicht, bestehen deutliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Besonders Frauen benötigen weiterhin bessere Rahmenbedingungen, etwa beim Zugang zu Kinderbetreuung, um ihr Erwerbspotenzial entfalten zu können. Auch beim Einkommen zeigen sich strukturelle Hürden. Viele Zugewanderte arbeiten in Tätigkeiten knapp oberhalb der Niedriglohnschwelle und verfügen damit über geringere Einkommens- und Aufstiegsperspektiven, auch wenn ein Großteil den Lebensunterhalt inzwischen eigenständig bestreitet.
Diese Entwicklung macht deutlich, wie wichtig eine langfristige Integrationspolitik ist, die Bildung, Arbeitsmarkt und soziale Teilhabe zusammendenkt und weiterentwickelt. Gleichzeitig zeigt sich ein Ungleichgewicht in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Während Migration häufig im Mittelpunkt politischer Debatten steht, geraten erfolgreiche Integrationsprozesse oder bestehende Herausforderungen zu selten in den Fokus.
Zehn Jahre nach 2015 stellt sich daher nicht nur die Frage, was erreicht wurde, sondern auch, was gefährdet ist. Angesichts zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung und wachsender rechtsextremer Mobilisierung ist zu warnen. Ein ablehnendes gesellschaftliches Klima erschwert Integration und hemmt Teilhabe, selbst dort, wo wirtschaftliche Voraussetzungen günstig sind. Wer gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken will, darf Integration nicht dem Lärm der Polarisierung überlassen.
Wenn wir die Erfahrungen der vergangenen Dekade ernst nehmen, dann wird klar: Eine starke Demokratie sichert Integration, und gelungene Integration stärkt unsere Demokratie.
Viel Spaß beim Lesen,
Alina Simon
Geschäftsführerin der bag arbeit

Alina Simon ist Geschäftsführerin der bag arbeit e. V.