10 Jahre „Sommer der Migration“ und “Flüchtlingskrise”

von Andreas Hammer

forum arbeit 03/25

„Sommer der Migration“

Die Zahl der Asylbewerber:innen in Deutschland war im Jahr 2015 deutlich höher als in den Jahren zuvor. Die starke Zunahme im Sommer 2015 ist unter anderem auf akute Versorgungsengpässe in Flüchtlingslagern rund um Syrien zurückzuführen. Mehrere Staaten, darunter Deutschland, hielten ihre Hilfszusagen an das UNHCR nicht ein. Deshalb musste das UNHCR die ohnehin geringen Zahlungen an regionale Flüchtlingslager weiter kürzen. Dies verschärfte die Fluchtbewegung.

Am 5. September 2015 entschied Bundeskanzlerin Merkel, Flüchtlinge aus Ungarn und Österreich ausnahmsweise ohne Grenzkontrollen nach Deutschland einreisen zu lassen. Syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen wurde ein Bleiberecht in Deutschland zugesichert. Daraufhin kamen Tausende Flüchtlinge nach Deutschland. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger zeigten eine Willkommens- und Anerkennungskultur gegenüber den Flüchtlingen und engagierten sich in humanitären Aktivitäten, die auch außerhalb Deutschlands Beachtung fanden.

 

“Flüchtlingskrise”

Gleichzeitig wurde diese humanitäre Aktion als Faktor für den weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen und der sogenannten „Flüchtlingskrise“ kritisiert. Der Begriff „Flüchtlingskrise“ lenkt davon ab, dass weniger die Flüchtlinge eine Krise bewirken, als dass es eine Krise der europäischen Flüchtlingspolitik ist. Diese Krise trug dazu bei, dass rechtspopulistische Parteien vermehrt Zustimmung fanden.

Am 13. September 2015 wurden Grenzkontrollen wieder eingeführt und das Schengen-Abkommen ausgesetzt. Angesichts ihrer Belastungen forderten die Bundesländer eine Reduzierung des Flüchtlingszuzugs. In kurzer Folge wurden im September 2015 und Anfang 2016 die Asylpakete I und II beschlossen, welche das Asylrecht einschränkten. Die „Silvesternacht“ 2015/16 verschärfte die Debatte um die Aufnahme und Abschiebung von Flüchtlingen. Im März 2016 vereinbarte die EU mit der Türkei ein Übereinkommen: Die türkische Regierung versprach, die Abschiebung von syrischen Asylsuchenden aus Griechenland in die Türkei gegen eine Vergütung von sechs Mrd. Euro zu gestatten. Damit endete der „Sommer der Migration“.

 

Fachkräftesicherung und Migration

Die Diskussion um die Fachkräftesicherung, die sich mit der Fluchtbewegung der Jahre 2015/2016 überlappt hat, hat zu einem Wandel in der deutschen Zuwanderungs- und Integrationspolitik beigetragen. Bislang weitgehend ausgeschlossene Migrationsgruppen wie Asylsuchende oder Geduldete erhielten leichteren Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt. Ihr Bildungs- und Beschäftigungspotenzial sollte für Betriebe nutzbar gemacht und ihre gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden. Seit Herbst 2015 verfolgte der Bund eine Doppelstrategie:

  •  leichterer Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt,
  •  gesetzliche und untergesetzliche Restriktionen zur Reduzierung der Zahl der Asylbewerber (z. B. „Sichere Herkunftsstaaten“, „hohe/niedrige Bleibeperspektive“).

Fragmentierte Zuständigkeiten (und daran gebundene Förderprogramme) auf vertikaler (EU, Bund, Land, Kommunen, Stiftungen) und horizontaler Ebene (Ausländerbehörde, Sozialamt, Jugendamt, Arbeitsagentur, Jobcenter, Schulen) stellen und stellten ein Problem dar.

Leichterer Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt

  • Fortsetzung der Anwerbung aus dem Ausland, Beispiel: Pilotprojekt der BA PUMA („punktebasiertes Modell für ausländische Fachkräfte“ ähnelt der Steuerung in Kanada; Zugang auch für Nicht-Engpassberufe), Mobi-Pro, Welcome Center 
  • Verstärkte Steuerung der Zuwanderung nach vermuteten ökonomischen und demographischen Bedarfen
  • Zuwanderer/innen wurden zu einer eigenständigen Zielgruppe der Arbeitsvermittlung
  • Neben Rechtsveränderungen wurden Programme aufgelegt, z. B. :
    • vollständige Öffnung der Integrationskurse für die Asylbewerber und Flüchtlinge mit Bleibeperspektive
    • Integrationsrichtlinie Bund
  • Pilotprojekte BAMF mit der BA zur Erfassung der beruflichen Qualifikationen der Zuwanderer
  • Ausbau von Sprachkursen, Vermittlungsprogrammen und Sozialleistungen für arbeitslose Flüchtlinge

Mit der Fluchtbewegung wurde z. B. beschlossen

  • für geduldete Personen, den Zugang zu ausbildungsfördernden Leistungen (BAB, BAföG) nach 15 Monaten (bisher 4 Jahre) Aufenthalt zu ermöglichen. 
  • für die Assistierten Ausbildung die Voraufenthaltsdauer für junge Geduldete entsprechend zu verkürzen
  • Dass geduldete Auszubildende auch mit ausbildungsbegleitenden Hilfen unterstützt werden können.
  • das Zeitarbeitsverbot für Asylsuchende  und geduldete Personen nach 3 Monaten zu kippen.
  • Änderung der Beschäftigungsverordnung (BeschV) zur Stärkung der Integrationschancen von (jungen) Flüchtlingen
  • § 32 BeschV wurde dahingehend geändert, dass Asylbewerber und Geduldete jetzt auch ohne Zustimmung der BA berufsvorbereitende Praktika absolvieren können, wenn diese nicht mit dem Mindestlohn zu vergüten sind (§ 32 Abs. 2 Nr. 1 BeschV i. V. m. § 22 Abs. 1, S. 2, Nr. 1 bis 4 Mindestlohngesetz).

Arbeitsmarkt und berufliche Integration

Die Arbeitsmarktintegration ist ein wesentlicher Aspekt der Integration, da die Erwerbstätigkeit der Existenzsicherung dient.

 

Maßnahmen und Programme

Im Zuge der Fluchtbewegung 2015/2016 wurden zahlreiche Programme aufgelegt. Die meisten dieser Programme waren hinsichtlich einer Arbeitsmarktintegration wenig zielführend und wurden deshalb aufgegeben. Ihnen war gemeinsam, dass sie eine von der Bundesagentur für Arbeit dominierte zentrale Konzeptualisierung und Leistungsausschreibung aufwiesen und Flüchtlinge separat in diesen Maßnahmen zusammenfassten (und nicht in inklusiven Maßnahmen mit deutschen Arbeitsuchenden).

Beispiele für Programme während der Fluchtbewegung 2015/2016

  • Early Intervention (Modellprojekt zur frühzeitigen Arbeitsmarktintegration von AsylbewerberInnen), 
  • PerF (Perspektiven für Flüchtlinge)
  • PerjuF (Perspektiven für junge Flüchtlinge) 
  • PerjuF-Handwerk, 
  • Vertiefte Berufsorientierung junger Flüchtlinge (BOF), 
  • Arbeitsgelegenheiten im Rahmen des Arbeitsmarktprogramms “Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen”, 
  • Integrationskurs ergänzende Maßnahme KompAS (Kompetenzfeststellung, frühzeitige Aktivierung und Spracherwerb), 
  • Bundesprogramm „Soziale Teilhabe durch Arbeit für junge erwachsene Flüchtlinge und erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ (STAFFEL), 
  • Integration Point, 
  • Bundesfreiwilligendienst mit Flüchtlingsbezug.

Die Erfahrungen aus den verschiedenen Maßnahmen aus dieser Zeit lassen sich allgemein zu folgenden Hindernissen und Prozessbrüchen zusammenfassen:

  • Fragmentierung
    • Die Maßnahmen wurden weniger von den Teilnehmenden her entwickelt und geplant als von den jeweils organisatorisch oder fiskalisch zuständigen Akteuren. Die Institutionenlogik statt Hilfe aus einer Hand brachte Koordinierungsaufwand und Inkonsistenzen mit sich.
    • Zerstückelung der Integrationsarbeit auf mehrere Maßnahmen, 
    • viele Maßnahmen führten zu einer Unübersichtlichkeit,
  • Die Förderkette erstreckte sich über längere Zeiträume bei einem Jährlichkeitsprinzip der Haushalte.
  • Vergaberecht
    • Vergaberecht erschwert Integration aus einer Hand
    • Vergaberecht und Gutscheine sind nicht flexibel genug für die Bedarfe der Flüchtlinge. Die Vergabe von Maßnahmen erschwert eine schnelle Beauftragung und eine flexible Handhabung (lernende Maßnahme).
  • wenig Spracherwerb im Erwerbsalltag – das war ein besserer Weg zum Deutschlernen als eine reine Kursform.
  • Das Verkürzungsverbot bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung, das damals gegolten hatte,
  • Motivierte Leistungsberechtigte, aber keine geeigneten Maßnahmen
  • Personen aus sicheren Herkunftsstaaten wurden vernachlässigt.
  • Diagnostische Verfahren (z. B. zur Kompetenzfeststellung) waren ungeeignet.
  • mangelnde Partizipation der Betroffenen, beispielsweise bei der Entwicklung und Ausgestaltung von Angeboten sowie der Unterstützung von Selbstorganisation und Selbsthilfegruppen.

Weitere Befunde aus dieser Zeit zeigen ein „Durchwursteln“ sowie eine teilweise zurückhaltende bis ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen.

  • Die meisten Flüchtlinge fanden nicht über die Arbeitsverwaltung Arbeit, sondern über Netzwerke.
  • Häufig wurde von Diskriminierungserfahrungen bei der Arbeitsplatzsuche und bei Behörden berichtet.
  • Negativ wirkte sich zudem der berufsfachlich strukturierte Arbeitsmarkt mit der Orientierung an formalen Zertifikaten aus.
  • Es gab unterschiedliche Praktiken der Behörden bei der Behandlung von Angaben zur Identität, Staatsangehörigkeit oder zum Duldungsausweis von Geduldeten.
  • Nicht alle Wege in Arbeit wurden in den Fokus genommen. Studium und Selbstständigkeit wurden nur am Rande berücksichtigt.

Einige dieser Probleme bestehen weiterhin. So hat die EU-Kommission im Jahr 2024 ein Verfahren gegen Deutschland eingeleitet, da die Dauer der Anerkennung beruflicher Qualifikationen gegen EU-Richtlinien verstößt.

Integration in den Arbeitsmarkt

Die gleichzeitige Wahrnehmung der Fluchtbewegung als „Sommer der Migration“ und „Flüchtlingskrise“ setzt sich in der Wahrnehmung von Flüchtlingen als potenzielle Fachkräfte fort, die hier zur Lösung von Personalengpässen und Problemen des demografischen Wandels beitragen sollen („nützliche“ Flüchtlinge). Andererseits gibt es die Wahrnehmung von Flüchtlingen als „unnütz“, die das Sozialleistungssystem ausnutzen (sie sollen zu einer Arbeit verpflichtet werden können) oder Einheimischen die Arbeitsplätze wegnehmen (Arbeitsverbot). Entsprechend wurde der Begriff „Bleibeperspektive“ 2015/2016 mit ethnonationalen Selektionskriterien konstruiert und der Zugang zum Arbeitsmarkt gesteuert.

Die 2015/2016 Zugewanderten haben trotz aller Probleme zu einem Großteil Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden. Dabei waren die Zivilgesellschaft, die dem Staat viele Ausgaben erspart hat, und die Maßnahmeträger, die in kurzer Zeit auf die Änderungen reagiert haben, von großer Bedeutung. Auch die Jobcenter haben sehr schnell reagiert. Mit der Dauer des Aufenthalts stieg die Erwerbsquote der Geflüchteten. Allerdings sind viele von ihnen in gering bezahlten Arbeitsplätzen beschäftigt, teilweise auch unterhalb ihrer Qualifikation. Das gilt vor allem für Männer. Frauen und Menschen ohne Zuwanderungsgeschichte scheinen auf dem Arbeitsmarkt stärker benachteiligt zu sein. 

Ein strukturelles Problem besteht darin, dass es relativ lange dauert, bis über das Bleiberecht von Geflüchteten entschieden wird. Auch die Entscheidung über einen Asylantrag dauert noch immer sehr lange. So haben acht Prozent der Antragsteller, die seit fünf oder sechs Jahren in Deutschland sind, noch keinen Bescheid über ihren Asylantrag erhalten. Bei den Personen, die seit sieben oder acht Jahren hier sind, sind es fünf Prozent. Von denjenigen, die seit sieben bis acht Jahren hier sind, haben neun Prozent an keinem Integrations- oder anderen Sprachkurs teilgenommen (Herbert Brücker, Philipp Jaschke, Yuliya Kosyakova 2025: Zehn Jahre Fluchtmigration 2015: Was Integration fördert und was sie bremst). Der Job-Turbo für Flüchtlinge hat den Flüchtlingen aus den acht Haupt-Asylherkunftsländern vermutlich ebenfalls keine Beschleunigung gebracht (Hammer, 2024: Beschleunigt der Job-Turbo die Arbeitsaufnahme von Flüchtlingen im Bürgergeld-Bezug? Www.andreas-hammer.eu).

Letztlich bleibt festzuhalten, dass in der Politik und den Medien das Thema Migration stärker betont wird als das der Integration. Dies gilt es zu ändern und aus den Erfahrungen zu lernen.

Unsere Autor Andreas Hammer

hat vor über 30 Jahren den noch bestehenden Träger “Jugendwerkstatt e. V. -Produktionsschule in Baden” gegründet. Seit vielen Jahren führt er Evaluationen und Fortbildungen durch, berät bei der Drittmittelakquise und Projektkonzipierung.

[email protected]

www.andreas-hammer.eu

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