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Bürgergeld-Gesetz: Eine Einschätzung zu den wichtigsten Veränderungen für Träger

„Das Bürgergeld soll die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein.“

Diese Ankündigung der Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag (S. 76) ging dem aktuellen Entwurf (RefE) eines „Bürgergeld-Gesetzes“ voraus. Der Entwurf sieht im SGB II Veränderungen vor allem in drei Bereichen vor:

    1. Anspruchsvoraussetzungen und Bedarfe für Unterkunft
    2. Leistungen zur Eingliederung in Arbeit
    3. Würde des und der Einzelnen: Kooperationsplan, Vertrauenszeit, Beratung auf Augenhöhe, Sanktion

Die folgende Ausführung aus Träger-Perspektive basieren auf dem Referentenentwurf vom 21.7.2022.

1      Anspruchsvoraussetzungen und Bedarfe für Unterkunft

Die Neuerungen beziehen sich vor allem auf verbesserte Absetzbeträge und auf das (nicht) zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen einschließlich einer Karenzzeit (§§ 11a, 11b, 12 und 22 SGB II RefE). Einige dieser Bestimmungen sind bereits seit der Corona-Pandemie gültig und werden fortgeführt. Eine Regelsatzerhöhung, wie sie angesichts der hohen Inflation vielfach gefordert wird, ist bisher nicht geplant.

Vorläufige Bewertung: Die Änderungen sind positiv. Die Karenzzeit kann eine höhere Akzeptanz des SGB II bewirken, aber auch den Druck auf Kommunen erhöhen, zur Einsparung von Unterkunftskosten eine schnelle Vermittlung innerhalb der Karenzzeit vorzunehmen. Einige Regeln sind der Verwaltungsvereinfachung geschuldet. Weitere Vereinfachungen für die Verwaltung und Verbesserungen für die Leistungsberechtigten sind wünschenswert. Teilhabe macht sich aber vor allem am Regelsatz fest, dessen Erhöhung nicht vorgesehen ist. Das relativiert das eingangs zitierte Versprechen von Würde und Teilhabe.

2      Leistungen zur Eingliederung in Arbeit

Bei den Eingliederungsleistungen gibt es wenig Veränderungen. Der Vorrang von Vermittlung in Arbeit vor Qualifizierung wird formal eingeschränkt, um die Nachhaltigkeit von Integration zu fördern. Damit wird anerkannt, dass hier eine Fehlentwicklung stattgefunden hat.

2.1.   Änderungen im SGB II

  1. 16i SGB II (Teilhabe am Arbeitsmarkt) wird entfristet, aber keine Ausweitung vorgesehen.
  2. Menschen, die an Maßnahmen des Kooperationsplans (s. u.) teilnehmen, erhalten einen neuen Bürgergeldbonus ( 16j SGB II RefE) von monatlich von 75 Euro für folgende Maßnahmen, wenn sie innerhalb der Vertrauenszeit (s. u.) beginnen:
    • Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung,
    • Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, Einstiegsqualifizierungen und Maßnahmen in der Vorphase der Assistierten Ausbildung,
    • Maßnahmen zur Förderung schwer zu erreichender Jugendlicher.
  3. In 16 k SGB II RefE wird neu die Ganzheitliche Betreuung verankert. Die offene Formulierung erlaubt verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten. Die ganzheitliche Betreuung kann das Jobcenter selbst realisieren oder einen Träger beauftragen (vermutlich über Vergabe). Zumindest in der Gesetzesbegründung ist eine freiwillige Teilnahme vorgesehen.
  4. Aus anderen Änderungen ergeben sich Folgewirkungen für Eingliederungsinstrumente. So stellt die Nichtaufnahme/-teilnahme an einer Arbeitsgelegenheit keine Pflichtverletzung mehr dar. Sollte während der Durchführung einer ganzheitlichen Betreuung nach § 16k SGB II RefE eine Beschäftigungsaufnahme gelingen, dann darf die Betreuung für sechs Monate auch dann weitergeführt werden, wenn die Hilfebedürftigkeit durch die Beschäftigungsaufnahme beendet wird. Diese Weiterführung gilt auch für § 16f SGB II. Dazu wird 16g SGB II angepasst.

2.2.   Änderungen im SGB III mit Wirkung auf das SGB II

Wichtige Förderinstrumente des SGB III können in Verbindung mit § 16 SGB II genutzt werden. Wesentliche Änderungen beziehen sich auf die Qualifizierung von Leistungsberechtigten.

  1. Einführung eines Weiterbildungsgeldes (§ 87a): Teilnehmende an einer berufsabschlussbezogenen Weiterbildung erhalten einen monatlichen Zuschuss von 150 Euro, wenn sie zuvor arbeitslos waren oder beschäftigt sind.
  2. Die Regelung zur Weiterbildungsprämie wird entfristet.
  3. Die Förderung von Grundkompetenzen (§ 81 Absatz 3a SGB III) soll auch losgelöst von berufsabschlussbezogenen Weiterbildungsmaßnahmen erfolgen können, um die Beschäftigungsfähigkeit zu verbessern.
  4. Der Verzicht auf das Verkürzungserfordernis bei Umschulungen und bestimmten Ausbildungsberufen (§ 180 Absatz 4 SGB III) wird eingeführt, gilt aber nur in besonders begründeten Fällen.
  5. Es wird klargestellt, dass die Kosten einer sozialpädagogischen Begleitung (§ 84) während einer Weiterbildung als möglicher integrierter Bestandteil einer Maßnahme übernommen werden können.

Vorläufige Bewertung: Die Ausweitung des sogenannten sozialen Arbeitsmarktes ist zwar nicht budgetiert, aber bei einer entsprechenden Priorisierung nicht unmöglich. Die ganzheitliche Betreuung kann ein nützliches Instrument werden. Sie kann allerdings zur stärkeren Kontrolle der Leistungsberechtigten genutzt werden, da die damit ausdrücklich ermöglichte aufsuchende Arbeit einen größeren „Einbruch“ in die Privatsphäre bedeuten kann. Die geplante Förderung von Grundkompetenzen und der schon lange geforderte Verzicht auf das Verkürzungserfordernis bei Umschulungen sind sehr positiv – wenn sie offensiv und nicht restriktiv genutzt werden.

Die finanziellen Anreize (Bürgergeldbonus, Weiterbildungsgeld, Weiterbildungsprämie) mögen für Leistungsberechtigte kurzfristig attraktiv sein – eine nachhaltige Wirkung darf bezweifelt werden. Leider nimmt der Bund an, dass die Leistungsberechtigten des SGB II nicht motiviert sind zu arbeiten. Das zeigt sich sowohl an der geforderten „Mitwirkungspflicht“ als auch an der Annahme, dass es an Anreizen der Arbeitslosen zur Erwerbstätigkeit fehlt (= mangelnde Leistungsbereitschaft ), die im Koalitionsvertrag und Gesetzesbegründungen formuliert ist. Diese seit 2005 dem SGB II eingeprägte Unterstellung wird nicht aufgegeben.

Die Mehrausgaben für die Änderungen bei den Eingliederungsinstrumenten führen ohne Erhöhung des Budgetansatzes zu einer Kürzung bei anderen Maßnahmen. Der Bund sieht für 2023 Mittel zur Eingliederung von 4,2 Mrd. Euro vor; das entspricht zwar dem voraussichtlich Ist-Stand 2022, stellt aber eine Kürzung gegenüber dem Soll dar. Diese Planung führt somit lediglich zu einer größeren Auswahl an Instrumenten, aber zu keiner Ausweitung der geförderten Personenzahl oder Maßnahmen. Die gesellschaftliche Teilhabe durch Arbeit bleibt so begrenzt.

2.3.   Abweichung gegenüber Koalitionsvertrag

Im Koalitionsvertrag sind Änderungen angekündigt, die aber bisher nicht Eingang in das Bürgergeld-Gesetz gefunden haben.

  1. Coaching-Angebot für U25 bei Leistungsminderung
  2. Weiterentwicklung §§ 16e, f und h SGB II
  3. Weiterentwicklung Ausbildungsgarantie, Einstiegsqualifizierung und assistierte Ausbildung
  4. Förderung der Gesundheitsprävention
  5. Verbesserte Angebote zur Teilzeitqualifizierung und Gesundheitsförderung nicht umgesetzt

Zielführende Ideen zur Berücksichtigung dieser offenen Vorhaben wären wünschenswert, aber eventuell auch nicht durch zusätzliches Budget abgedeckt.

2.4.   Was fehlt

Über Referentenentwurf und Koalitionsvertrag hinausgehend gibt es weitere Optimierungsmöglichkeiten, die im Gesetzgebungsverfahren aufgenommen werden sollten:

  1. Mehrjähriger Haushaltsrahmen für Jobcenter für verbesserte Planung
  2. Absenkung der Fördervoraussetzungen für §16i SGB II einschließlich Arbeitslosenversicherung
  3. Arbeitsgelegenheiten: Streichung der Kriterien der Zusätzlichkeit und der Wettbewerbsneutralität
  4. Jobcenter sollten auch arbeitsmarktbezogene Struktur-, Prozess- und Produktinnovationen fördern können
  5. Optimierung der Sprach- und Integrationskurse/-maßnahmen
  6. Vereinfachung der Vergabepraxis und Zulassen von alternativen Wegen der Leistungserbringung

3      Würde des und der Einzelnen

Das zentrale Anliegen des Referentententwurfs die „Würde des und der Einzelnen zu achten“, soll dazu beitragen das Negativ-Image von „Hartz IV“ zu überwinden. Die folgenden Elemente sollen das Anliegen unterstützen.

Mit den neuen Reformen wird gleichzeitig anerkannt,dass Eingliederungsvereinbarungen, Sanktionen usw. eine Fehlentwicklung gewesen sind, die man (zumindest sprachlich) überwinden möchte. Ausgeblendet wird, wie bisher, dass zahlreiche Leistungsberechtigte erwerbstätig sind, arbeitsunfähig sind oder wegen Kinderbetreuung dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen.

  • Kooperationsplan § 15 SGB II RefE und Schlichtungsverfahren § 15b SGB II RefE

Der Kooperationsplan ersetzt die Eingliederungsvereinbarung, die zuletzt durch einen Prüfbericht des Bundesrechnungshofs an Legitimation verloren hatte und überarbeitet werden musste. Der Kooperationsplan beinhaltet die gleichen gesetzlichen Vorgaben wie die Eingliederungsvereinbarung mit dem Unterschied, dass es sich nicht mehr um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag handelt und deshalb keine rechtliche Grundlage für eine Sanktion darstellt.

Dennoch kann das Nichteinhalten des Kooperationsplans zu Sanktionen führen. Mithin kann ein Schlichtungsverfahren (neu) eingeleitet werden, wenn bei der Erstellung, Durchführung oder Fortschreibung eines Kooperationsplans Meinungsverschiedenheiten auftreten.

Vorläufige Bewertung: Das Jobcenter hat beim Kooperationsplan eine Veto-Position, was einer symmetrischen Beziehung zum Leistungsberechtigten widerspricht. Ob die Ausgestaltung des Kooperationsplans und des Schlichtungsverfahrens zu mehr Respekt und Würde führt, bleibt fraglich.

  • Vertrauenszeit § 15a SGB II RefE

Grundsätzlich sehen die Regelungen vor, dass es keine Sanktionen gibt, solange die Leistungsberechtigten den Kooperationsplan umsetzen. Diese Zeit heißt neu „Vertrauenszeit“. Das Jobcenter kontrolliert die Leistungsberechtigten auch in der Vertrauenszeit. Setzen sie ihn nicht (mehr) um, dann sollen die Jobcenter die Leistungsberechtigten schriftlich unter Erläuterung der Rechtsfolgen zur Vornahme von notwendigen Mitwirkungspflichten wie Eigenbemühungen, Teilnahme an Maßnahmen oder Bewerbung auf Vermittlungsvorschläge auffordern. Werden diese Mitwirkungspflichten nicht umgesetzt, dann stellt dies eine Pflichtverletzung dar, die eine Sanktion zur Folge hat. Davon gibt es abweichende Konstellationen: 1. Die ersten sechs Monate des Leistungsbezugs sind sanktionsfrei, 2. Es kommt zu keinem Kooperationsplan (erfolglose Schlichtung); dann ergeht ein Eingliederungsverwaltungsakt, ohne dass eine Vertrauenszeit entsteht. Wesentlich wird künftig die Feststellung sein, ob sich Leistungsberechtigte in der Vertrauenszeit befinden oder nicht.

Vorläufige Bewertung: Die Vertrauenszeit ist von einer Asymmetrie zu Gunsten der Jobcenter gekennzeichnet. Diese muss sich allerdings nicht praktisch niederschlagen.

  • Leistungsminderung/Sanktion

Die Sanktionsregeln, die nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Anwendung gekommen sind, werden nun gesetzlich verankert. Das Wort „Sanktion“ wird gestrichen und mit „Leistungsminderung“ ersetzt, aber mit gleichem Inhalt, und ohne darüber zugunsten der Leistungsberechtigten hinauszugehen.

Vorläufige Bewertung: Der Nachweis der evidenten Wirkung von Sanktionen ist praktisch nicht erbracht. Der Status quo wird beibehalten.

  • Beratung auf Augenhöhe

Die Gesamtwirkung der genannten Elemente soll Respekt, Vertrauen und Umgang auf Augenhöhe gesetzlich stärker in den Fokus rücken. Im Umkehrschluss wir eingestanden, dass dies bisher nicht der Fall war.

Teilweise müssen die Fachkräfte noch immer sehr viele Leistungsberechtigte beraten. Festzuhalten bleibt, dass der Grundsatz des Forderns (§ 2 SGB II) und Förderns (§ 14 SGB II) unverändert bleibt. Es wird weiterhin eine symmetrische Beziehung auf Augenhöhe unterstellt. Leistungsberechtigte haben aber von ihren Ressourcen her nicht die gleiche Ausstattung wie die Fachkräfte im Jobcenter (Bildungsstand, Deutschkenntnisse, psychische Belastung, Krisensituation als Arbeitslose). Problematisch bleibt die Tendenz zur double bindSituation zwischen Leistungsberechtigten und Mitarbeitenden der Jobcenter. Die Doppelbotschaft Mitwirkungspflicht bei gleichzeitigem Umgang auf Augenhöhe und Freiwilligkeit, Androhung von Leistungsminderungen und Vertrauenszeit.

Vorläufiges Fazit: Gemessen an der Gesetzeslage stellt der Referentenentwurf eindeutig eine Verbesserung dar, der Anspruch und das Versprechen der Regierung im Koalitionsvertrag hinsichtlich Würde und Teilhabe wird allerdings nicht im möglichen Umfang umgesetzt.

Dieser Artikel von Andreas Hammer ist im Original in der forum arbeit 03/22 erschienen.

Unser Autor Andreas Hammer ist seit 1985 beschäftigungspolitisch in verschiedenen Funktionen aktiv. Seit vielen Jahren führt er Evaluationen und Fortbildungen durch, berät bei der Drittmittelakquise und Projektkonzipierungen.