a) 3a SGB II – Vermittlungsvorrang
Wir erkennen ausdrücklich das arbeitsmarktpolitische Bestreben der Bundesregierung an, angesichts der Arbeitslosenzahlen Vermittlung in Arbeit zu stärken. Ein Vermittlungsvorrang darf aber nicht zu einem Qualifizierungsnachrang führen. Es ist weder im politischen noch im gesellschaftlichen noch im wirtschaftlichen Interesse, Menschen kurzfristig in Arbeit zu bringen, wenn ihnen so möglicherweise langfristige Arbeitsmarktperspektiven verschlossen werden.
Aus unserer Praxis wissen wir, dass gesetzliche Prioritätensetzungen schnell in operative Zielgrößen der Jobcenter übersetzt werden. Ein Vermittlungsvorrang, wie er im Referentenentwurf formuliert ist, birgt daher das Risiko, dass schnelle Abgänge aus dem Leistungsbezug höher bewertet werden als nachhaltige Integration und berufliche Entwicklung. Damit geraten nachhaltige Integrationsstrategien, insbesondere für Personen mit erhöhtem Unterstützungs- oder Qualifizierungsbedarf wie junge Menschen oder Geflüchtete, leicht aus dem Blick.
Zudem gewährleistet die Priorisierung der Vermittlung nicht automatisch deren Gelingen. Viele erwerbsfähige Leistungsberechtigte mit multiplen Hemmnissen, insbesondere langzeitarbeitslose Menschen, benötigen realistische Zwischenschritte über einen verlässlich ausgestalteten zweiten Arbeitsmarkt. Öffentlich geförderte Beschäftigung bietet ihnen eine stabile Tagesstruktur, soziale Teilhabe und die Möglichkeit, berufliche Kompetenzen schrittweise wieder aufzubauen. Für einen großen Teil dieser Zielgruppe wird eine spätere Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt erst dann realistisch, wenn geförderte Beschäftigung mit begleitendem Coaching und paralleler Qualifizierung kombiniert wird.
Nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt stärker berücksichtigen
Eine Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kommt zu folgendem Ergebnis:
„Die meisten Arbeitslosen nehmen nach einer gewissen Zeit zumindest vorübergehend wieder eine Beschäftigung auf. Dies geschieht allerdings größtenteils in Form atypischer Beschäftigungsverhältnisse. (…) Allerdings erwies sich sowohl atypische Beschäftigung als auch reguläre unbefristete Vollzeitbeschäftigung für die hier betrachteten Fälle als häufig nicht dauerhaft. Viele vormals Arbeitslose wurden während des Beobachtungszeitraums erneut arbeitslos oder nahmen mehrere Jobs auf. Daher sollte arbeitsmarktpolitisch nicht nur kurzfristig die Aufnahme einer Beschäftigung, sondern auch die Beschäftigungsstabilität gefördert werden.
(Quelle: https://iab-forum.de/arbeitslos-und-dann-die-neuen-jobs-sind-meistens-atypische-beschaeftigungen)
Diese Erkenntnis darf nicht ausgeblendet werden und sollte in dem Entwurf stärker berücksichtigt werden. Das ist aus unserer Sicht auch mit Wiedereinführung des Vermittlungsvorrangs möglich. Der Koalitionsvertrag lässt Möglichkeiten für eine Ausgestaltung des Vermittlungsvorrangs. Der Vermittlungsvorrang sollte Qualifizierung und einer nachhaltigen Integration in den Arbeitsmarkt mehr Raum geben.
Wir sehen insbesondere folgende Schwachpunkte und Gefahren im Entwurf des § 3a:
- Der neue §3a manifestiert bereits in seiner Formulierung eine Quasi-Vorfestlegung gegen Leistungen zur Eingliederung in Arbeit, die eine nachhaltige Eingliederung in den Arbeitsmarkt behindern kann. Von der Notwendigkeit von Eingliederungsmaßnahmen sei „insbesondere auszugehen, wenn leistungsberechtigte Personen ohne Berufsabschluss Leistungen zur Unterstützung“ erhalten oder an einer beruflichen Weiterbildung teilnehmen. Wir halten Eingrenzung für zu eng gefasst.
Der Vorrang für Vermittlung, die Betonung der besonderen Bedürfnisse von Menschen ohne Berufsabschluss sowie eine nachhaltige Integration in Arbeit durch Maßnahmen zur Eingliederung sollten zusammengedacht werden.
Wir schlagen daher einen „nachhaltigen Vermittlungsvorrang“ vor:
- Vermittlung ist kein Wert an sich, denn Erfolge, die lediglich kurzfristig sind, sorgen bei Unternehmen für Planungsunsicherheit und bei Menschen für Frustration. Vermittlung sollte nachhaltigen Erwägungen folgen. Dies erkennt der Referentenentwurf in seiner Problembeschreibung auch an, wenn er formuliert, Integration soll „möglichst nachhaltig erfolgen“ (Seite 2). Der neue §3a „Vorrang der Vermittlung“ wird diesem Ziel allerdings nur unzureichend gerecht.
Wir schlagen folgende Formulierung vor:
„Die Vermittlung in Arbeit hat Vorrang, soweit sie eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt erwarten lässt; zur Erreichung dieses Ziels ist Qualifizierung ein wesentliches Mittel, insbesondere für Menschen ohne Berufsabschluss. Die Nachhaltigkeit einer Arbeitsaufnahme soll durch geeignete Maßnahmen unterstützt werden.“
Unser Formulierungsvorschlag
- hätte weiter die Vermittlung als Vorrang zum Ziel,
- würde das im Referentenentwurf formulierte Ziel der Nachhaltigkeit stärken,
- würde allen Leistungsberechtigten den Zugang zu Leistungen zur Eingliederung ermöglichen,
- die besonderen Bedarfe von Menschen ohne Berufsabschluss adressieren und
- beließe die Entscheidungskompetenz über eine Vermittlung in Arbeit oder eine Eingliederungsmaßnahme in der Hand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jobcenter, ohne eine Vorfestlegung zu treffen.
Mit Blick auf eine nachhaltige Integration sollten zumindest in der Gesetzesbegründung Maßnahmen hervorgehoben werden, die auf eine qualifikationsadäquate Arbeitsaufnahme vor allem durch schnelle Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen sowie die Verbesserung der (berufsbezogenen) Deutschsprachkenntnisse abzielen.